Kurzgeschichte - Teil 1
Jeder Kontinent riecht anders, dachte Nora. Als sie vergangen Sommer nach ihrer Afrikareise den Hartschalenkoffer öffnete, hatten ihre Kleidungsstücke den Geruch von rauchiger roter Erde angenommen. An diesem bewölkten Morgen in Chiles Künstlerstadt Valparaiso, drang der modrige Duft der nahegelegenen Palmenwälder in ihre Nase. Sie rieb sich die Augen. Die schmalen Hostelbetten hatten keine bequeme Nacht versprochen. Mit einem Schwung kroch sie aus der Bettdecke hervor und setzte sich auf die Kante des klapprigen Stockbetts. Nora kramte den beinahe hundertfach gefalteten Zettel aus der Seitentasche ihres Rucksacks. „Calle Adriana 48“ – so lautete die darauf vermerkte Adresse. In dieser Straße sollte ihre neue Zukunft in Südamerika beginnen. In dem kleinen Kunst-Atelier „galería magica“ – „Magische Galerie“. Und tatsächlich lag die Galerie in einem wunderschönen Künstlerviertel – wie sie feststellte, als sie sich nach einem spärlichen Frühstück auf den Weg gemacht hatte. Die Hausfassaden reihten sich wie die bunten Farbnäpfchen in ihrem Aquarellkasten aneinander – und waren mindestens genauso farbenfroh. Während sie noch über die Farbkombinationen der Gebäude sinnierte, schlenderte sie an der Nummer 48 vorbei. Fast hätte sie das überraschend schmale Häuschen übersehen, das sich etwas nach hinten versetzt zwischen zwei hellgelbe siebenstöckige Wohngebäude presste. „Robert H.“. Zumindest der Name des Freundes ihres Kunstprofessors stand auf dem abgenutzten Klingelschild. Sie drückte den kleinen vergilbten Knopf. Es war eine schmale Frau, die ihr die Tür öffnete. Rosa Maria bewohnte das Dachgeschoss, bat Nora herein und stellte ungefragt ein Glas Cherimoyasaft auf den Küchentisch. „Roberto ist nach Santiago gefahren“, sagte sie schulterzuckend. Schnell wurde Nora klar, dass es kein Atelier in der Calle Adriana 48 gab. Dennoch lies sie sich von Rosa Maria auf ein Brot mit Tomatensalsa und später noch ein warmes Mittagessen und ein paar Gläser Cherimoyasaft einladen.
Als sie sich verabschiedete, war es schon dunkel. In einer kleinen Empanaderia brannte noch Licht. Sie kaufte die südamerikanische Spezialität mit verschiedenen Füllungen. Alufolie umschloss die noch warmen Teigtaschen in ihrer Hand, als sie den Laden verließ. Der würzige Duft von frisch zubereitetem Essen hatte zwei magere Straßenhunde angelockt. Sie schnüffelten und folgten ihr. Nora begann zu rennen. Die Empanadas fielen zu Boden, die Hunde scharrten sich darum. Nora rannte weiter, kam an einer Haltestelle vorbei, an der ein grauer faltiger Mann kauerte. Endlich verlangsamten sich ihre Schritte, ihr Atem begann hörbar aus ihrem Mund hinaus zuströmen. Sie lies sich an das äußerste Ende der Holzbank fallen …